PROJEKTE

Gegenwärtige Forschungsprojekte

ZU ANSICHTEN ZU WELTLITERATUR UND WIRKLICHKEIT IM GLOBALEN ZEITALTER

1. WELT – EREIGNIS – LITERATUR

2. ‚KALIFORNIEN‘ ALS RAUM UTOPISCHER VERGANGENHEITEN DER ZUKUNFT UND GLOBALER IDEOLOGIEN ‚WESTLICH DES WESTENS‘. EINE SPURENSUCHE

3. KOSMOPOLITISMUS IN DER WELTGESELLSCHAFT: VORSTELLUNGEN UND FIKTIONEN 

4. ZEITUNGSLEKTÜREN UND LEKTÜREZEITEN: AKTUALITÄT, MATERIALITÄT – UND DIE LITERATUR 

5. TRANSATLANTISCHE FEEDBACKS: HAUS UND HOME REVISITED 

– „Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein.“ 

In einer polyzentrischen Welt und angesichts einer Multipluralität der Diskurse lässt sich die von Erich Auerbach 1952 noch prominent projizierte „synthetische Philologie der Weltliteratur“ nicht mehr wirklich erhoffen. Von ,Weltliteratur‘ ist außerhalb eines klassischen Kanon-Denkens nicht mehr im Singular zu sprechen. Auerbachs zitiertes Diktum aus seinen Überlegungen zur Philologie der Weltliteratur mit der Absage an die Nation liefert für aktuelle Überlegungen zum Wissen der Philologie und einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung mit Gegenwartsperspektive dennoch weiterhin ein starkes Motiv.  

– Um in einer aus Fremdsprachigkeit und in Übersetzungen bestehenden Welt die ‚Einsprachigkeit des Anderen‘ zur Anerkennung zu kommen zu lassen.

– Um ein ‚Wir mit Worten‘ in Literatur zu finden und auch kritisch zu adressieren.  

– Um in zeitreflexiven Lektüren den Sprachgebrauch von normensetzenden Institutionen, die Äußerungen von widerständigen Gemeinschaften und die Worte der vereinzelten Stimmen und ihrer Echos anderswo zu untersuchen. 

– Um mit einer literatur-, kultur– und medienwissenschaftlichen Perspektive zu „Ansichten zur ‚Weltliteratur‘ im globalen Zeitalter“ zu kommen. Wie es der perspektivgebende und verbindende Übertitel der fünf Forschungsprojekte verspricht, die von hier und anderswo aus entworfen wurden und weiter entwickelt werden.  

In den multidimensionalen Gegenwarten einer als globalisiert ,verstandenen‘ Welt erweist es sich als notwendig, den historisch bestimmte Begriff ,Weltliteratur‘ wie der ebenso mit Vorgeschichte versehenen Begriff des ,Globalen‘ immer wieder zu kontextualisieren und nach den jeweils gegebenen Perspektivierungen von Welt und Weltbild wie dem Ins-Verhältnis-Setzen der Betrachtenden zu Erde und Kosmos zu fragen. 

‚Weltliteratur‘ und ‚das Globale‘ in den kritischen Blick zu nehmen, erfordert die Beschreibung des Wechselverhältnisses von Beobachtenden und Objekten. Zwingend verlangt ist eine Revision von Geschichtsverständnissen und Besitzverhältnissen, heißt: die kritische Inventur von Machtrepräsentationen wie ebenso der Äußerungen jener vielen historischen Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen mit ihrem globalen Widerhall in der Zeitgeschichte. Das Ziel einer solchen Betrachtung von ‚Weltliteratur‘ gilt dem kritischen Verstehen dessen, was – so verkürzend wie erweiternd – ,globales Bewusstsein‘ genannt wird, von dem auch ein Erich Auerbach noch ausging und weiter viele Standpunkte innerhalb gegenwärtiger Globalisierungsdiskurse bestimmt. 

Wo und wie gewinnt wer wann Perspektiven auf Welt und vermittelt diese wem? –

Verdichtet in dieser Frage formuliert sich die Komplexität des Versuchs, Ansichten zum ‚Globalen‘ und ihrer ‚Wirklichkeit‘ zu gewinnen, um dieses vorgeblich eine Bewusstsein vor dem Hintergrund einer von komplexer Zeitlichkeit bestimmten Weltgesellschaft in plurale Perspektiven zu vervielfältigen. Wie sich dies im Konkreten ablesen und verwirklichen lässt, ist die Frage, die sich vielversprechend mit Blick auf ‚die Literatur‘ stellen und an ihren Texten über die Zeiten diskutieren lässt. Dazu heißt es, sich für Zeitwahrnehmungen in und durch Texte, Zeichen, Medien und für Lektüreperspektiven zu interessieren. Für ‚Zeitmitschriften‘ in Texten, Zeichen und Medien, die zur Anschauung bringen, welche Wirklichkeit in den von ihnen erzeugten ,Wirklichkeitsbildern‘ als den Repräsentationen von Macht und Weltansichten zum Entstehen gebracht und als vorausgesetzt oder auch als zu hinterfragen dargestellt wird. In besonderer Weise ist es nämlich die Literatur, die zur Auseinandersetzung mit Praktiken der Weltbeziehungen und den Entwürfen von Wirklichkeitskonzepten herausfordert. Eine Literatur, die als markiert von einer jeweils singulären Eigenheit ihrer Sprachlichkeit und der ihr eigentümlichen Medialität und Temporalität, als das Medium des Transfers und der Positionierungen gegenüber Zeit und Raum zu lesen und in vielfachen Kontexten zu betrachten ist. Als zeichensetzendes Medium und Form, um fortgesetzt aktuell kritische Kommentierungen von (techno-szientistischen) Weltanschauungen vorzunehmen, wenn diese Literatur in der Zeit Lektüren hervorruft und wieder und wieder Lektüren von Lektüren provoziert.

Ganz grundsätzlich steht einem Lektüreverfahren die Bestimmbarkeit von ‚Literatur‘ und von ,Welt‘ durch ihr gegenseitiges In-Bezug-Setzen zur gegenwartsbezogenen Debatte. Dabei gilt es zugleich auch, das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Literatur zeitaktuell neu zu vermessen.

Diese herausfordernde Aufgabe ist das verbindende Motiv von fünf jeweils ganz eigenständigen und miteinander korrespondierenden Forschungsprojekten:  

 1. WELT – EREIGNIS – LITERATUR

Literatur ist, wie das Ereignis, ein Zeitgeschehen. Als eine Lesefigur mag das Ereignis vielfache Lektüren informieren, die in ihrer Gegenwärtigkeit die Gegebenheit wie eindeutige Datierbarkeit von Präsenz wie auch die Historie als Verortungskategorie für Fiktionales als fragwürdig erscheinen lassen. Damit erlaubt das ,Ereignis‘, Modalitäten des Erzählens, der Schreibverfahren wie auch der Lektürebewegungen zu reflektieren. Ebenso fordert es zu Fragen nach dem Verhältnis von Literatur und Geschichtlichkeit auf. An zunächst zwei ‚Weltereignissen‘ – dem Sklavenaufstand in Haiti von 1791 und der Terrorattacken des 11. September 2001 – sollen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Ereignis und Literatur, Geschichte und Ereignis, Moment und Long Durée, Literatur und Geschichte angestellt werden. Medialität, Zeitdiskurse, Intertextualität sowie bildtheoretische Überlegungen sind weitere Aspekte, die in den Lektüren von Texten und zeitbasierten Medien, in denen historische ,Weltereignisse‘ konstruiert und durchgearbeitet werden – um zu einer multiperspektivischen Sicht auf ‚Welt‘ und das ‚Globale‘ zu kommen. 

2. ‚KALIFORNIEN‘ ALS RAUM UTOPISCHER VERGANGENHEITEN DER ZUKUNFT UND GLOBALER IDEOLOGIEN ‚WESTLICH DES WESTENS‘. EINE SPURENSUCHE

Das Forschungsvorhaben „‚Kalifornien‘ als Raum utopische Vergangenheiten der Zukunft und globaler Ideologien ‚westlich des Westens‘ unter­sucht anhand von literarischen Texten und künstlerischen Bildern zur Utopie ‚Kalifornien‘ die Einschreibungen von raum-zeitlichen Ordnungsansprüchen in Landschaften und ihren Darstellungen. Durch diese Spurensuche in Landschaft als dem Formierungsraum einer globalen neoliberalen Ideologie – wie sie als Californian Ideology bereits 1995 zu Beginn des digitalen Zeitalters beschrieben wurde – soll so kritisch auch die Idee ‚des Westens‘ als einer sich mit weltumspannendem und universalistischem Machtanspruch versehenen Vorstellung befragt werden. Ausgerichtet auf die literatur- und kulturwissenschaftliche Erforschung von Zukunftsformationen und ihre Vorgeschichten versteht sich das Vorhaben als eingebettet einerseits in umfassende Forschungen zur Landschaft in Literatur und den zeitbasierten Künsten wie andererseits in die literaturwissenschaftliche Utopie-Forschung sowie auch in geisteswissenschaftliche und gesellschaftspolitische Diskurse zur Formierung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Das Forschungsvorhaben soll eine pointierte wie selektive kritische Bestandsaufnahme leisten, die als impulsgebend für eine kritische kulturwissenschaftliche Erfor­schung von ‚Gegenwart‘ wirken kann, wenn sich dabei theoretische Reflexionen und konkrete Lektüren und Analysen von Texten und Bildern aus den letzten anderthalb Jahrhunderten seit Gründung des Bundestaates bis in die Gegenwart wie auch von empirischen Landschaftsformationen verbinden. Kalifornien wird als Raum gesehen, in dem im Westen der Süden (Mittel- und Südamerika), der Osten (Pazifischer Raum) und das alte Europa (via amerikanischer Ostküste) aufeinandertreffen. In den Fokus genommen werden die von diesem ausgehenden globale Effekte (Digitalisierung), um den dort entwickelten Weltordnungsansprüche in ihren Vorgeschichten weiter nachzugehen. Dabei steht die Auseinandersetzung mit der Darstellung von Landschaft und den in ihr vermittelten Vorstellungen von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ und ‚Gemeinschaft‘ zentral. 

3. KOSMOPOLITISMUS IN DER WELTGESELLSCHAFT: VORSTELLUNGEN UND FIKTIONEN

In Zeiten intensiver Auseinandersetzungen zum Verhältnis von Ästhetik und Politik und von äußerst kontrovers geführten Identitätsdebatten verlangt es nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem historisch gewordenen und neu aktualisierten Ideal des „Kosmopolitismus“, einem anderen Wort für „Weltbürgertum“. Historische Positionen (Kant, Lessing, Wieland, Herder, Benjamin, Thomas und Heinrich Mann, Auerbach…) sollen mit jüngeren und aktuellen Debattenbeiträge (Derrida, Nancy, Glissant, Brennan, Benhabib, Appiah, Nussbaum, Mbembe…) kontrastiert und mit literarischen Texten gegengelesen werden. Die Befassung mit dem Kosmopolitismus als philosophisch-politischer Anschauung oder auch Ideologie, die als ursprünglich in der europäischen Aufklärung formuliertes Ideal ihren Anteil an der heutigen politischen und diskursiven Weltordnung hat, kann Anregungen für eine aktuelle Philologie liefern. So ist – mit Blick auf „Weltgesellschaft“ (Luhmann) und „Weltweite“ (Marx) – immer wieder nachzulesen, in welchen Welten – innerhalb eines wie definierten Kosmos (Blumenberg) – Literatur Bezug zum Ganzen (der Welt) nimmt und dies in Teilen zeigt. In perspektivischer Umkehrung kann die Literatur den von geschichtswissenschaftlichen und politischen Denkfiguren bestimmten Diskursen zum Kosmopolitismus neue Impulse geben, wenn sie in Lektüren Hinweise auf deren Performativität liefert und zur Reflexionen auch des Fiktionalen der konkreten Vorstellungen in politischer Rede (Arendt) anregt.

– Lektüren können als Remontagen von Zeitaufzeichnungen angelegt und verstanden werden. In ihnen wird damit das besondere Reflexionspotential der Literatur für Erkenntnisgewinne über die Gegenwart als einer von Ungleichzeitigkeiten bestimmten und immer nur relationalen ‚Zwischenzeit‘ erkennbar. Diese Potentiale – über die Thematisierung des Lesens als einer vielfältigen und komplexen Kulturtechnik in diversen Medienkonkurrenzen – für Diskurse auch außerhalb des disziplinären Feldes der Literatur- und Kultur- und Medienwissenschaften deutlich zu machen, ist die Ambition eines multimedialen Forschungsprojekts:  

4. ZEITUNGSLEKTÜREN UND LEKTÜREZEITEN: AKTUALITÄT, MATERIALITÄT – UND DIE LITERATUR

In einem ‚Post-Paper-Age‘, nämlich in einer Gegenwart der Digitalformate als den global dominanten und eine scheinbare Gleichzeitigkeit herstellenden Verbreitungs- und Speichermedien, sollen in Literatur und anderen Medienformaten vermittelte ,Zeitungslektüren‘ und Ver- und Bearbeitungen von Zeitungen und Zeitschriften als besonderen Formen von ‚Zeitmitschrift‘ mit ihrer spezifischen Materialität zu Lektüre- und Betrachtungsobjekten werden. An denen zeigt sich – in wechselseitigen Bild-Text-Beziehungen und ihren materiellen Konkretionen – die zeitlichen Unordnungen in der Ordnung der Dinge. Zugleich sind sie Konkretionen der fundamentale Kategorie ‚Aktualität‘ für die Vorstellbarkeit von Welt und Wirklichkeit, wie sie sich in der Realität der Massenmedien produziert sehen lassen und diskursiv und konkret (in Schrift und Bild in Druck auf Papier) reflektiert werden. Solche Wahrnehmbarkeiten von Materialität und Aktualität in ihrer gegenseitigen Beziehung können epistemologische Erkenntnisse für zeitbasierte Lektüren von Texten im Zeitalter der digital-bewegten Bilder und zu ihren historischen Verortungen in unseren Gegenwarten erbringen, so die Aussicht für eine besondere materialreiche Betrachtung von Lektürezeiten aus medienwissenschaftlicher Perspektive.

Bestimmt von einer ausdrücklich literahistorischen Perspektive, mit es erlaubt, Fragen zur Archivierung von Wissen und denen Effekten von interkulturellen Korrespondenzen zu behandelt, ist das Projekt:  

5. TRANSATLANTISCHE FEEDBACKS: HAUS UND HOME REVISITED

Als Ausgangspunkt für Standpunktüberprüfungen, die dieses ‚Hier‘ und jenes ‚Drüben‘ betreffen, welche sich durch historische und fortgesetzte transatlantische Transfers und Hin- und Her-Übersetzungen und Transporte von Ansichten produktiv hergestellt finden. Dabei geht es – literarische und andere epistolarische Texte aus dem 19. und 20. im Blick, die als Sendungen von und nach Deutschland und (vornehmlich) den USA ihre Verschickung erfuhren – zentral um die Präsentation, Repräsentation, verstärkenden Wahrnehmungen oder auch abweisende Kommentierungen von Eigenem und Fremden, Selbstannahmen und Fernansichten: in Ansichten zu ‚Häusern‘ und ‚Homes‘. Auf das Thema des Bauens, Wohnens, Denkens konkret bezogene ‚transatlantische Feedbacks‘ – Rückkoppelungen und Rückmeldungen also, die als zielgerichtete oder auch fehlgehende Sendungen (wie in privaten Briefen oder öffentlichen intellektuelle Wortmeldungen) ankommen, stören und (nach)wirken: von Hegel und Marx bis zur Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) und den Popdiskursen des späten 20. und 21. Jahrhunderts, von Briefen der Auswanderer des 19. Jahrhunderts bis zu Theoretikern des 20. Jahrhunderts, von Virginia bis Heidelberg, von Los Angeles bis Amorbach, von Kürnberger und Sealsfield über Kafka und Holitscher, Thomas Mann, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Herbert Marcuse, über Reinhard Lettau, Jürgen Becker und Hubert Fichte, Wolfgang Koeppen und Uwe Johnson bis Thomas Meinecke und Rainald Goetz, Katrin Röggla und Kevin Vennemann, Dorothee Elmiger und Leif Randt.  

Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Globalisierungsdiskurse sollen die fünf entworfenen Forschungsprojekte das Grundverständnis von Literaturwissenschaft als einer entgrenzten und entgrenzenden Interpretationsverfahrenstheorie, die sich der Reflexion von Lektüre- und Wahrnehmungsverfahren verschreibt, deutlicher ins Bewusstsein auch fachfremder Diskurse bringen. 

Mit diesen Forschungsprojekte soll gezeigt werden, wie eine solche Literaturwissenschaft als potentiell kritische Lektüreverfahrenspraxis mit ihrer ausgesprochen gegenwartsbezogener Perspektive und ihrem historisch-kritischen Bewusstsein für epistemologische Fragestellungen in gesellschaftliche Felder hineinwirken kann.